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Grenoble – ein ökologisches Vorbild

Im Exklusivinterview erklärt Éric Piolle, Bürgermeister von Grenoble, warum die französische Alpenmetropole seit Jahren auf grüne Innovationen setzt.

grenobleDie Alpenmetropole erhielt den «European Green Capital Award» 2022. Quelle: EU

Die französische Stadt Grenoble liegt nur zwei Autostunden von Genf entfernt. Sie ist seit längerer Zeit für den Einsatz klimafreundlicher Technologien und ihren überzeugenden Umgang mit der Klimaproblematik bekannt. Deshalb wurde Grenoble von der Europäischen Kommission zu Recht mit dem Titel «Grüne Hauptstadt Europas 2022» ausgezeichnet. Die Alpenmetropole mit 160’000 Einwohnerinnen und Einwohnern in der Stadt selbst und mehr als 700’000 in der angrenzenden Region engagiert sich insbesondere im Kampf gegen den Klimawandel und für eine effizientere Energienutzung. Innovative Ideen, unter anderem die CNG-Technologie im Bereich Mobilität, machen aus ihr ein ökologisches Vorbild. Bis Ende Jahr wird die regionale Busflotte mit CNG-Bussen von Scania erweitert, die dank dem Biogas-Antrieb äusserst klimafreundlich sind. Grenoble ist zudem eine der wenigen grossen Gemeinden Frankreichs mit einem grünen Bürgermeister.

Herr Piolle, wieso ist Grenoble so «grün»?
Éric Piolle (48), Ingenieur und Bürgermeister von Grenoble:
Die Stadt Grenoble ist seit Längerem immer einen Schritt voraus. 1788 wurde hier mit dem sogenannten Tag der Ziegel, der «Journée des Tuiles», die Französische Revolution geboren; der erste Arbeiterverein entstand hier; nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt als eine von fünf Städten zur «Compagnon de la Libération» ernannt und sie veranstaltete 1968 die ersten Olympischen Spiele der Moderne usw. Es gibt hier einfach diese Freude und Lust, Veränderungen zu bewirken und sich einzubringen. Grenoble ist eine lebendige Stadt, die sich für die wichtigen Gesellschaftsthemen und vor allem für die Umwelt und die Erhaltung des Ökosystems engagiert. Zweifellos spielt dabei die geografische Lage im Herzen eines empfindlichen Ökosystems in den Alpen eine Rolle. Aber sicher auch ihr Kampf in den 1980er- und 1990er-Jahren rund um die Gemeingüter, um die öffentliche Wasserversorgung sowie gegen die Korruption. Die Stadt hat sich entwickelt. Ein Beispiel dafür ist das erste französische Ökoquartier in der früheren «Caserne de Bonne». Und eine grundlegende Umstellung fand um 2010 mit der Bürgerbeteiligung statt. All dies führte anlässlich der Wahlen 2014 zu einem Sieg der ökologischen und bürgernahen grünen Liste.

Hat Ihre Wahl zum Bürgermeister auch dazu beigetragen, dass die grösste Alpenmetropole zu einem ökologischen Zentrum wurde?
Auf jeden Fall zu einem Ort, wo Ökologie wirklich gelebt wird. In all unseren Aktivitäten bringen wir Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit in Einklang und setzen dabei auf eine starke und systematische Einbindung der Bevölkerung: bei Wohnungen, der Mobilität, der Ernährung und der Luftqualität. Diese Kohärenz in unseren Aktionen brachte uns schliesslich den Titel «Grüne Hauptstadt Europas 2022». Der Titel ehrt uns, ruft uns aber vor allem dazu auf, noch weiter zu gehen. Das Jahr 2022 wird ein Jahr des Austauschs, der Konferenzen, des Teilens und Empfangens von Delegationen aus ganz Europa. Es wird aber vor allem ein Jahr, in dem wir die Veränderungen rund um die zwölf Herausforderungen – eine pro Monat –, zu Themen wie Wasserversorgung, Mobilität, Wärmeschutzmassnahmen in Wohnungen usw. beschleunigen.

«Die Kosten für den Klimawandel und die damit verbundenen Naturkatastrophen belaufen sich jedes Jahr auf Milliarden von Euro.»

Ihr Wahlbündnis der Partei Europe Écologie – Les Verts (EELV), der Linkspartei und Mitglieder der Zivilgesellschaft, Verbände und Initiativen wollte 2014 unter anderem den Fahrradverkehr verdreifachen und das Tramnetz erweitern. Was konnten Sie davon alles realisieren?
Die Mobilität hat eine hohe Priorität, sowohl im Hinblick auf die Luftqualität und die Verkehrsberuhigung im öffentlichen Raum als auch auf die Kaufkraft. Die Abhängigkeit vom Auto muss reduziert werden, denn sie kostet uns jährlich durchschnittlich 5000 Euro pro Haushalt. Wir müssen mit einem umfassenden Mobilitätsplan, dem 2019 bestätigten «Plan de Déplacement Urbain 2030», dieser «zwangsläufigen Ausgabe» für die Mobilität entgegenwirken. Erste Priorität haben die Fussgänger mit der Errichtung einer autofreien Zone im Stadtzentrum 2019 und künftig auch in allen Quartieren, auf zahlreichen Strassen, vor allen im Umfeld der Schulen der Stadt. Zweite Priorität hat das Fahrrad. Zurzeit entwickeln wir in der ganzen Metropole Hauptachsen, sogenannte Chronovélos. Breit, komfortabel und sicher. Unsere Vision ist, dass für kürzere Strecken alle aufs Fahrrad steigen. Und es funktioniert. Auf den bereits realisierten Abschnitten steigt die Anzahl Fahrräder stark an. Im Zentrumsabschnitt des Netzes sind es bereits sechsmal mehr. Gute Verbindungen zwischen den öffentlichen Verkehrsmitteln und den anderen Transportmitteln werden ebenfalls ausgebaut: ein Seilbahnsystem, der Ausbau der bestehenden Linien und der sogenannten Chrono-Busse. Zudem arbeiten wir an einem neuen Tarifsystem mit reduzierten Preisen für die Jungen und Freifahrten für die Einkommensschwächeren und für alle am Wochenende.

ScaniaDank des CNG-Antriebs und Biogas im Tank sind die Chronobusse in Grenoble beinahe CO2-neutral unterwegs. Quelle: Scania

Im Kampf gegen die Luftverschmutzung in Grenoble setzen Sie auch auf Motoren mit Biogas- oder CNG-Antrieb, zum Beispiel bei Bussen oder bei der Abfallentsorgung. Was sind die Vorteile?
Die Luftverschmutzung stellt in Grenoble ein wichtiges Problem dar, verursacht durch die geografische Lage in einem Talkessel zwischen den Bergen, durch die Autos, aber auch durch die noch häufig vorkommenden alten Holzheizungen im Wohnbereich. Biogas und CNG gehören zum Energiemix, der für die Umstellung, die Dekarbonisierung der Mobilität und für den Kampf gegen die Umweltverschmutzung nötig ist. Wir haben eine Low-Emission-Zone für leichte Nutzfahrzeuge und LKW geschaffen und schon bald folgt eine für den Privatverkehr, um Diesel und Benzin zu verbannen. Unter diesen Umständen, mit dieser klaren Kehrtwende, ist eine Diversifizierung der Treibstoffe für Fahrzeuge von grosser Bedeutung, vor allem im ÖV. Mit Diesel betriebene Busse werden verschwinden. Die Abfallentsorgung wird mit Biogas, das aus der Kläranlage der Metropole Aquapôle gewonnen wird, betrieben. Wir fördern damit kurze und vorbildliche Wege.

«Biogas und CNG gehören zum Energiemix, der für die Umstellung, die Dekarbonisierung der Mobilität und für den Kampf gegen die Umweltverschmutzung nötig ist.»

Viele Ihrer Schweizer Parteikollegen fördern lieber die Elektromobilität. Warum interessieren Sie sich in Grenoble für Biogas und CNG?
Man muss ein ausgewogenes Verhältnis finden. Die Hauptsache ist eine möglichst gute Umstellung der Mobilität. Die Herkunft der verbrauchten Energie ist dabei eine grosse Herausforderung. Wie Sie wissen, stammt der Hauptteil unseres Strommixes aus Kernenergie, und die erneuerbaren Energien sind noch nicht so weit, wie sie sein sollten. Dazu kommen noch die von den Fahrzeugen ausgestossenen Schadstoffe. Ein anderes wichtiges Thema ist für uns die für die Fahrzeugherstellung notwendige graue Energie. Unmengen an Stahl, Kunststoff, elektronischen Komponenten und Kupfer werden aus allen Ecken der Welt importiert, die eine hohe Umweltbelastung und einen hohen Verbrauch an Rohstoffen verursachen. Vor allem auch, weil die Fahrzeuge immer grösser werden; ein beunruhigendes Phänomen ist das Aufkommen der SUV. Aus diesem Grund unterstützen wir aktiv das Retrofit-Programm in Grenoble, sei es für elektrische Energie, aber auch für Gas, das viel günstiger, schneller und einfacher umgesetzt werden kann. Mit Retrofit wird Neues aus Altem geschaffen, und unsere Fahrzeuge können vor Ort nachgerüstet und rezykliert werden. Es handelt sich um eine Wertschöpfungskette, in die weiter investiert werden muss.

ToyotaBereits 2014 startete Grenoble auch mit einem Versuch mit den bunten Toyota i-Road für die Mobilität auf der letzten Meile. Quelle:  Toyota

In welchem Bereich der Mobilität wollen Sie noch «grüner» werden?
Die Möglichkeiten sind immens. Man muss sicher beim Bestehenden ansetzen, die Organisation der Quartiere aus Sicht der Mobilität überdenken, den Transitverkehr in Wohnquartieren verhindern und die Umgebung der Primarschulen sicherer machen. Aber der grösste Spielraum für Verbesserungen besteht beim Zugang zu den Lebens- und Arbeitsräumen. Heute sitzen während der Stosszeiten in der Umgebung von Grenoble im Schnitt nur 1,04 Personen in einem Fahrzeug. Dies verursacht Umweltverschmutzung und Staus. Das Teilen der Verkehrsmittel muss weiter vorangetrieben werden, mit Fahrgemeinschaften und auch Car-Sharing. Wir haben hier eine grosse Kooperative, Citiz, die ständig wächst. Im Herbst 2020 haben wir in Grenoble auf der Hauptzugangsachse die erste Fahrgemeinschaftsspur eröffnet. Und nicht zuletzt entwickeln wir ein unterirdisches S-Bahn-Projekt, inspiriert vom Léman Express. Die Verkehrsverlagerung muss massiv sein, das Verbesserungspotenzial ist enorm.

«Das Teilen der Verkehrsmittel muss weiter vorangetrieben werden, mit Fahrgemeinschaften und auch Car-Sharing.»

Der ökologische Wandel ist zwar wünschenswert, aber nicht gratis. Kann sich Grenoble das leisten?
Ich widerspreche der falschen Behauptung, der ökologische Wandel sei teurer als das Beibehalten des aktuellen Systems. Die Ökologie bewirkt für die Haushalte kurzfristig ein Gewinn an Kaufkraft: durch die Reduktion der fixen Ausgaben, weniger Kosten dank besser isolierten Wohnungen, tiefere Investitionen für das Auto und eine bessere Ernährung mit weniger Fleisch. Für die Regionen ist es vor allem eine langfristige Investition. Die Luftverschmutzung in den Städten kostet pro Jahr und Einwohner mehr als 1000 Euro, mit den Kernkraftwerken überlassen wir künftigen Generationen eine immense Schuld, da sie rückgebaut werden müssen. Die Kosten für den Klimawandel und die damit verbundenen Naturkatastrophen belaufen sich jedes Jahr auf Milliarden von Euro. Ökologie ist die Suche nach Sachlichkeit, unter der Sicherstellung von Emanzipation und Sicherheit im Alltag. In der Metropole Grenoble konnten wir die Budgets umdisponieren und besser zuteilen. Die Zeit der unnützen und vorgeschriebenen Grossprojekte ist vorbei, zugunsten einer Vielzahl an Projekten zur Verbesserung des Alltags.

Bürgermeister Éric Piolle auf der Bastille mit einer super Aussicht auf die Stadt Grenoble. Quelle: Screenshot/Grenoble

Mussten Sie wegen der Coronakrise gewisse Projekte zurückstellen?
Alle Akteure der Region bekamen die Auswirkungen zu spüren. Die Gemeinden verloren an Handlungsspielraum und müssen diesen auch abgeben, um die Solidarität zu verstärken. Die Transportunternehmen haben Benutzer und damit Einnahmen verloren. Die Unternehmen, Vermieter und Produzenten sind aufgrund der Auftragsrückgänge und Rohstoffknappheiten stark betroffen. Für gewisse Projekte braucht es darum ein bisschen mehr Zeit, insbesondere für Stadtentwicklungsprojekte. Die Krise brachte uns aber vor allem viele Fortschritte hinsichtlich der Natur. Grünbereiche wurden natürlicher, öffentliche Räume wurden geselliger, und bei der Mobilität gab es einen Boom bei den Velos und Fussgängern, was sich positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden auswirkt.

«Die Herkunft der verbrauchten Energie ist eine grosse Herausforderung. Der Hauptteil unseres Strommixes stammt aus Kernenergie, und die erneuerbaren Energien sind noch nicht so weit, wie sie sein sollten.»

Letzten Sommer wurden Sie mit 53 % der Stimmen wiedergewählt. Welche Projekte wollen Sie während Ihrer zweiten Amtszeit für Grenoble realisieren?
Ja, in einem Viererpakt, um genau zu sein. Im ersten Wahlgang haben wir stark zugelegt, was zeigt, dass unser Programm den Bedürfnissen und Wünschen der Bürgerinnen und Bürger entspricht. Wir werden daher selbstverständlich die Veränderungen verstärken und beschleunigen. Einerseits durch die Umsetzung der während der vorhergehenden Amtszeit konzipierten und entwickelten Projekte, zum Beispiel die Dynamisierung der Mobilität, aber auch durch neue Projektvorschläge, wie eine stärkere Anbindung an das Wasser im öffentlichen Raum und einen wichtigen Sanierungsplan unserer Arbeiterviertel.

Grenoble mustert bewusst Diesel-Busse aus, um die regionale Busflotte bis Ende Jahr mit neuen CNG-Bussen zu erweitern. Quelle: Scania

In der Schweiz wirft die Klimajugend den Politikern vor, nicht genug für den Kampf gegen den Klimawandel zu tun. Sehen Sie sich auch mit solchen Kritiken konfrontiert – vielleicht sogar zu Hause von Ihren vier Kindern?
Die Bürgerinnen und Bürger, die Zivilgesellschaft, die Verbände sind den Institutionen oft einen Schritt voraus. Eine Aufgabe der Gewählten ist, die Bedürfnisse des Volkes zu spüren und darauf zu reagieren. Die Jugend übernimmt bei wichtigen Veränderungen offensichtlich eine Vorreiterrolle. Die Jungen sind die Betroffenen von morgen, man sieht es in der ausserordentlichen Mobilisierung im Rahmen der Klimakundgebungen. Die Jugend fordert uns heraus, und sie hat Recht, denn die sich abzeichnende Zukunft ruft legitime Ängste hervor. Und sie ist davon am meisten betroffen. Sie wird das Jahr 2050 erleben, und dann 2100. Und sie fordert uns auf, auf diese Angst zu reagieren, indem wir zusammen eine wünschenswerte Zukunft gestalten.

«In all unseren Aktivitäten bringen wir Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit in Einklang»

Der Weg, den die Alpenmetropole eingeschlagen hat, um ein innovatives Ökozentrum zu werden, ist beispielhaft. Können Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen den Schweizer Politikerinnen und Politikern einen Rat mit auf den Weg geben, wie man einen solchen Wandel umsetzt und ihn der Bevölkerung plausibel vermittelt?
Ratschläge nicht direkt, man muss bescheiden und verständlich bleiben. Die Schweiz ist in vielen Bereichen weiter als Frankreich, bei der Erhaltung der Landschaft, der Mobilität und vor allem im Schienenverkehr. Ich denke dabei zum Beispiel an das Tramsystem in Städten wie Basel. Ein guter Weg für die Verkehrsberuhigung im öffentlichen Raum, von dem wir uns auch inspirieren lassen. Unsere Erfahrungen in Grenoble haben gezeigt, dass man es vor allem versuchen und ausprobieren muss. Mit einer radikalen und pragmatischen Vorgehensweise. Radikal, da man die Probleme nur lösen kann, indem man sie an der Wurzel packt. Freiwilliges Handeln, um das Leben, die Mobilität, den Wohnraum, die Ernährung und die Gesundheit zu verändern. Pragmatisch, denn wir arbeiten alle gemeinsam. Gemeinsam erreichen wir mehr. Es braucht deshalb jeden Einzelnen, um die Veränderungen voranzutreiben, auf individueller und kollektiver Ebene, als Unternehmen, Verbände und Institutionen. Das ist das Prinzip der Grünen Hauptstadt 2022, ein Gemeinschaftsprojekt, um weiterhin etwas zu bewegen. (jas, 9. Juni 2021)

 

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